Freitag, 1. Februar 2013

"Wenn du dann studieren gehst..."

Diese Woche erschien in der Zeit ein Artikel zum Schicksal von Kindern aus Arbeiter_innenfamilien. Ich habe schon länger mal überlegt, darüber was zu bloggen. Da das aber eng mit meiner Mobbinggeschichte verbunden ist, habe ich das immer wieder vor mir her geschoben. Da ich aber evtl. nächste Woche mit @Mandelbroetchen den Arbeiterkind-Stammtisch besuchen möchte, passt mir das gerade in den Kram. Das hier ist eine persönliche Geschichte, eine Sammlung aus Erinnerungen bzw. Gedanken, kein politischer Text mit großartigen gesellschaftskritischen Thesen. Nichts, was nicht auch schon andere gesagt haben, aber eben ein Beispiel.

Ich bin an sich kein Arbeiter_innenkind - ich bin eine Tochter aus einem Hartz 4-Haushalt. Meine Mutter ist ungelernt, geht aber seit vielen Jahren putzen. Mein Vater hat gegen den Willen seiner Mutter die Fachhochschulreife abgeschlossen, einen Beruf gelernt und lange Jahre gearbeitet. Nun hat er drei abgeschlossene Berufsausbildungen, eigentlich wäre er Büroangestellter, heute arbeitet er aber im sozialen Bereich. Meine gesamte Schulzeit über war ich aber eben "die mit dem arbeitslosen Vater" - unabhängig davon, ob mein Papa gerade in einer der vielen Maßnahmen des Arbeitsamts/einer Fortbildung steckte oder zuhause war. Wenn man nach den Zahlen geht, waren wir "arm", Geld war immer knapp. Ich bin froh über mein Elternhaus und stolz auf meine Eltern, darum soll es hier gar nicht gehen! Es gab aber eben Schwierigkeiten, die mit Geld zu tun hatten - Stichwort Teilhabe.

In der Grundschule war ich nach kurzen Anfangsschwierigkeiten eine der Klassenbesten. Ich lernte gerne, lesen wurde meine Leidenschaft und ich wurde sehr viel gefördert. Mein Vater war zuhause und half mir jeden Nachmittag bei den Hausaufgaben. Nichts blieb ungelöst, nichts unerklärt - seine Unterstützung war unerschöpflich, seine Geduld nicht immer - meine auch nicht ;-) Spätestens in der 8. Klasse ging mir die Lernerei mit ihm gehörig auf die Nerven, trotzdem bin ich für die Hilfe noch heute sehr dankbar. Irgendwann stießen meine Eltern aber natürlich an ihre Grenzen. Wir waren nun mal kein Haushalt voller Akademiker_innen, viele Dinge waren für meine Eltern neu.
Ich hatte ich eine großartige Grundschullehrerin. Sie setzte sich immer persönlich dafür ein, damit ich an allen Schulausflügen teilnehmen konnte - auch, wenn meine Eltern sie sich nicht leisten konnten. Die Gymnasialempfehlung war gar keine Frage, ich konnte die Ansprüche locker erfüllen. Schon in der dritten Klasse hieß es von meinen Eltern aus immer: "Wenn du dann auf's Gymnasium gehst..." und ab der siebten Klasse: "Wenn du dann studieren gehst...". Ich musste nie darum kämpfen, auf's Gymnasium zu gehen - ganz im Gegenteil kam gar nichts anderes in Frage. Der Kampf begann erst auf dem Gymnasium.
In der Grundschule spielte es noch keine Rolle, was meine Eltern taten, auf dem Gymnasium schon. Eine Freundin ließ irgendwann einmal durchblicken, dass ich einen arbeitslosen Vater hatte und schon war es um meine soziale Stellung in der Klasse geschehen. Ab der 6. Klasse wurde ich in der Klasse ausgegrenzt, beschimpft, auf dem Nachhauseweg verfolgt und nachmittags zuhause angerufen. [1] Ich war trotzdem immer gut in der Schule, auch unter diesen schrecklichen Umständen. Das heizte die Mobber_innen sogar noch mehr an - arm und schlau, das geht nicht! Ich gehörte nicht an diesen Ort, das Gymnasium stand mir nicht zu. Also wurde sich darüber lustig gemacht, was für Klamotten ich trug, dass wir kein Auto hatten, nie in Urlaub fuhren und ich keine Geburtstagsfeiern im Kino veranstalten konnte. Was die Eltern beruflich machen und wieviel Taschengeld wir bekommen, das waren Unterrichtsthemen, die mir große Angst machten. Ich bekam nämlich kein Taschengeld.

Ich wechselte in der 8. Klasse die Schule - auf ein anderes Gymnasium, denn meine Zukunft wollte ich mir nicht verbauen lassen. Ohne hier auszuführen, wie es an der neuen Schule weiterging: Ich war weiterhin eine gute Schülerin, machte erfolgreich mein Abitur. Im 10. Schuljahr entschied ich mich, nach dem Abi Germanistik zu studieren, in der 11 schaute ich mir die Unis an, die für mich in Frage kämen. Mein Weg war vorgezeichnet und ich ging ihn sehr geradlinig, wusste was ich machen wollte.
Ich musste das auch wissen, denn mir wurden mehr Steine in den Weg gelegt als meinen Mitschüler_innen. In der Oberstufe wurde ich regelmäßig "vom Amt" eingeladen, um über meine Zukunft zu sprechen. Der Sachbearbeiter ließ mich eine Eingliederungsvereinbarung unterschreiben. Sowas müssen Hartz 4-Empfänger_innen tun, um vertraglich zu vereinbaren, dass sie sich regelmäßig bewerben usw., damit es nicht zu Leistungskürzungen kommt. Ich musste unterschreiben (ja, "Vereinbarung" klingt freiwillig, ist es aber nicht), dass ich regelmäßig zur Schule gehe und mein Abi mache. Meine Noten und Fehlstunden wurden notiert und man zeigte sich sichtlich beeindruckt von der schüchternen 16jährigen, die genau wusste, was sie studieren wollte und trotz "Armut" gut in der Schule war. Es war absurd! Mitschüler_innen aus Familien mit besserem Einkommen durften "machen, was sie wollten". Ob gute oder schlechte Noten, Fehlstunden oder nicht - Ärger machten ihnen höchstens die Eltern und solange die Versetzung nicht gefährdet war, war klar, dass dem Abi nichts im Wege stand. Meine Eltern hatte nie Grund zur Klage, aber ich wäre eben ggf. von außen zu einer Ausbildung gezwungen worden. Das ist ein wahnsinniger Druck für einen heranwachsenden Menschen. Die Angst, eine Person könnte kommen und mir meine Schulbildung wegnehmen, nur weil ich mal ein halbes Jahr ins Straucheln komme, was eigentlich jeder_m Jugendlichen zustehen sollte.

Meine Abiturzeugnisvergabe habe ich in mittelschöner Erinnerung. Es war schade, dass unser Abiball ausfiel, aber ich war froh, kein Geld für ein teures Kleid zusammenkratzen zu müssen. Bei der Zeugnisvergabe bekamen dann unsere beiden Besten von der Schule eine nicht unerhebliche Summe Geld geschenkt. Eine Freundin aus ähnlichen finanziellen Verhältnissen und ich bekamen kaum den Mund zu. Wir beide hatten richtig gekämpft für unseren Abschluss und beide sehr gut abgeschnitten. Wir sind sehr früh selbst arbeiten gegangen - ich habe in den feinsten Häusern Nachhilfe gegeben. Wir hatten beide einen Studienplatz in Aussicht und wussten nicht, wovon wir da leben würden. Die beiden, die von unserer Schule mit Geld belohnt wurden, bekamen beide von ihren Eltern einen Laptop zum Abi.
Es blieb das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden - und ja, da war eine gehörige Portion Neid dabei. Sowas wie Internetzugang hatten wir sehr sehr spät (freien Zugang für uns Töchter so als ich in der 12. Klasse war). Ein Duden kostet wahnsinnig viel Geld, das denkt man sich gar nicht, und im Deutsch LK werden natürlich viele Bücher gelesen. Zusatzlektüre, um für's Abi zu lernen, konnten wir uns nicht leisten. Klassenfahrten kosten ein Vermögen und wurden vom Mund abgespart. Eine Mitschülerin, die eine Busfahrkarte von der Schule bekam, nutzte diese ziemliche genau nie, sondern wurde vom Vater mit dem dicken Benz zur Schule gebracht. Ich bekam keine Fahrkarte bezahlt, meine Eltern hatten kein Auto. Hätte ich jemals Nachhilfe gebraucht, hätte ich sie nicht bekommen können. Ich musste gut in der Schule sein, denn ich konnte keine Hilfe bekommen.
Hier zeigt sich ganz klar, wie unterschiedlich die Voraussetzungen sind, was das Wohlbefinden einfach sehr beeinflussen kann. Es ist nicht fair, dass manche in einem weniger ruhigen Umfeld lernen müssen als andere. Gymnasiast_innen und Lehrer_innen (das kenne ich hauptsächlich aus Erzählungen von anderen, ich hatte da Glück) gehen vielfach immer noch davon aus, dass das Gymnasium nur für die Elite da ist. Und die Elite sind die, die viel verdienen. Mir wehte vielfach der Wind entgegen, dass die Schulform weniger über die Noten, als über die soziale Stellung des Elternhauses aussagt.

Und heute? Ich studiere, bekomme BAföG und gehe arbeiten - bei meiner Schwester sieht es genauso aus. Im Herbst mache ich meinen Master und ich träume davon, zu promovieren. Meine Eltern verstehen kaum, was ich da in der Uni eigentlich tue, diese Welt ist ihnen fremd. Erst seitdem ich mehr arbeite als "nur" Nachhilfe, verstehen sie, dass ich arbeite. Meine Lernerei ist für sie weniger Arbeit - auch wenn sie immer gefördert haben, dass ich genau da bin, wo ich nun bin. Vor meiner weiteren Verwandtschaft darf ich mich auch immer wieder für mein Studium rechtfertigen. Und dabei studiere ich in Regelstudienzeit ;-)
Natürlich ist die Perspektive nach dem Studium für uns gleich: Wer nach demAbschluss nicht sofort einen Job hat, fällt in Hartz 4. Der Unterschied ist, dass ich am eigenen Leib gespürt habe, was das heißt. Ich will da nicht wieder hin und falle derzeit schon mal gerne in so einen Strudel aus Angst und Leistungsdruck.

[1] Ich glaube, in der 5. Klasse war noch alles okay - mein Gehirn verbietet mir, mich an zu viel zu erinnern. Bis heute gibt es gewisse Trigger und vor allem (Verlust-)Ängste, ich habe das alles nie richtig verarbeitet und möchte das deswegen auch hier nicht zu sehr ausführen - evtl. mache ich das irgendwann mal, wenn Interesse besteht. Menschen, die mich kennen, verstehen vielleicht ein paar meiner Verhaltensweisen besser, wenn sie Teile meiner Geschichte kennen.

14 Kommentare:

  1. Kenn ich, bei mir war das schon in der Grundschule so. Hinzu kam, dass meine Eltern geschieden waren und meine Mutter alleinerziehend mit drei Kindern. Das war für meine Mitschüler_innen, die meist Einzelkinder waren, im Eigenheim lebten, zweimal im Jahr verreisten und jeden Tag mit dem Auto zur Schule gebracht wurden, bis sie den Führerschein bezahlt und danach ein Auto geschenkt bekamen, obwohl sie in Laufnähe zur Schule wohnten, total asozial.

    Immerhin gab es damals den Duden, den Atlas und noch ein paar weitere Bücher von der Schule (?) geschenkt, alle weiteren Bücher, die wir für den Unterricht brauchten, gab es in der Schulbibliothek, und zumindest in der Grundschule gab es kostenlosen Förderunterricht in Mathe und Deutsch.

    Heute weiß ich, dass es mich selbständiger und stärker gemacht hat als meine Mitschüler_innen. Aber damals war es einfach nur hart. Während ich kellnern gehen und Nachhilfe geben musste, um überhaupt Abi machen zu können, bekamen die anderen (neben Auto etc. s.o.) z.B. eine dreimonatige Reise durch Südeuropa zum Abi geschenkt.

    Liebe Grüße,
    Henriette

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  2. Vielen Dank für diesen ehrlichen Bericht. Dass es inzwischen so schlimm ist, hätte ich nicht gedacht, und ich wundere mich ein bisschen, dass überhaupt noch niemand kommentiert hat.
    Mich hat das ziemlich beschäftigt, und ich habe auf der Suche nach Antworten zum "Warum?" darüber gebloggt:
    http://autorenblog.writingwoman.de/index.php/blog/blogging/hartz-4-und-trotzdem-gymnasium-und-uni/
    Ein wichtiges Thema!
    Liebe Grüße
    Petra

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    1. Vielen Dank für deinen Antwortbericht!
      Einen Kommentar gibt es schon, ich kam nur erst heute Abend dazu, euch freizuschalten :-) Und den bösen Kommentar, den ich gleich heute früh bekam, hab ich direkt gelöscht.

      Viele Grüße,
      FP

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  3. Hab ich gerne geschrieben!
    Böser Kommentar? :-( Die Leute kapieren es einfach nicht.
    Da ist Löschen wirklich das Beste. In deinem Blog hast du schließlich Hausrecht!
    LG
    Petra

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  4. Ich bin seit gestern um beide Artikel sozusagen herumgestrichen. Ich selbst kam 1969 aufs Gymnasium, in einer sehr kleinen Stadt. Fast nur Fahrschüler aus den umliegenden Dörfern und noch kleineren Städten. Akademikerkinder waren dort die Ausnahme - und, vor allem mit guten Noten, die beliebtesten Mobbingopfer. Meine eigenen Erinnerungen sind da recht übel. Geld war eher keine Frage, oder Dinge, die man hatte oder nicht. Es waren vielleicht einfach noch andere Zeiten. Die wenigen Kinder aus wohlhabenderen Familien mussten eher aufpassen, nicht anzugeben, das hätte Ärger geben können. Vielleicht half aber auch die Lehrmittelfreiheit, inklusive eben solcher Schulausgaben von Atlanten und anderen wichtigen Dingen, dass "kein Geld haben" nicht so auffiel - es war die absolute Ausnahme, dass wir für irgendetwas im Schuljahr Geld mitbringen mussten. Klassenfahrten waren eher billig, und unsere Klassenlehrer verzichteten jeweils auf ihre kostenlose Fahrt zugunsten eines Schülers, der sich das nicht leisten konnte. Das meiste Taschengeld auf den Fahrten hatten witzigerweise die Töchter von zwei alleinerziehenden Müttern.
    Bei meinen Kindern habe ich es ähnlich erlebt, meine Tochter wurde übel gemobbt, auch wegen der guten Noten und sie sagte mir, das sei keine Ausnahme. Aber da ging es in manchen Klassen auch schon mit "Markenterror" los. Aber auch das war Kleinstadt - vielleicht kein Vergleich.

    Den größten Skandal aber in diesem Blogartikel finde ich die Jobcenter-Erpressung. Ich kenne das Verfahren und bin der Meinung, dass es absolut unmöglich ist, bereits bei Schulkindern mit Eingliederungsvereinbarungen anzufangen - an dem Punkt müsste dringend im BT angefangen werden mit Protesten und gegen solche Dinger geklagt werden. Ich halte dieses Verhalten für verfassungswidrig, und denke auch nicht, dass das vom Gesetzgeber so beabsichtigt war.

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  5. Ich kann das absolut nachvollziehen.

    Ich bin auf dem Land irgendwo in der "unteren Mittelschicht" aufgewachsen, nach der Trennung meiner Eltern zogen wir in die nächstgrößere Stadt, wo wir 1. auf ALGII (Hartz IV) "abrutschten", weil meine Mutter vorher 20 Jahre Hausfrau war und ich 2.auf eine Schule in dem reichsten Stadtteil kam. Im generellen hatte ich dort recht wenig Probleme (weil es ein Schulzentrum war und ich außerdem im Schnitt zwischen einem und drei Jahre älter als die anderen in meiner Klasse war und sie respekt vor mir hatten), aber nachdem wir innerhalb der Stadt nochmal umzogen und ich auf ein reines Gymnasium war, hab ich es dort kein halbes Jahr ausgehalten. Danach wechselte ich auf eine Gesamtschule, wo es mir großartig ging. Ich war Klassenbeste (Zweitbeste des erweiterten Realschulabschlusses), erklärte meinen Miterschüler_Innen gerne das, was sie nicht verstanden und die Lehrkräfte fanden mich fast alle super. Diese Schule lag aber in einem etwas ärmeren Stadtteil, viele Leute in meiner und in den Parallelklassen kamen aus Arbeiter_Innenfamilien oder ALGII-Haushalten, Haupt- und Realschüler_Innen wurden gemeinsam unterrichtet und nur in den Hauptfächern in Kurse unterteilt, bei Arbeiten gab es immer zwei Versionen, für die besonders guten manchmal sogar eine dritte Version, je nach leistungsstand. Es wurde hervorragend auf alle eingegangen und ich konnte in allen Fächern aufholen, die ich auf dem Gymnasium nie verstanden hatte, weil die Lehrer_Innen davon ausgingen, dass alle alles auf Anhieb verstanden.
    In der Oberstufe fing dann auch bei mir der Stress mit dem Arbeitsamt an, vorallem als ich in der 12. Klasse eine Sondergenehmigung benötigte, um mein "eigenes" Arbeitslosengeld zu beantragen um ausziehen zu können. Das hat zwar nach vielen Kämpfen geklappt, aber mir wurde trotzdem bereits während der Schulzeit nahegelegt, ich solle mi doch einen 400€-Job suchen.Ich konnte nur etwa die Hälfte der Klassenfahrten mitmachen (das Arbeitsamt übernahm einen Großteil der Kosten, den Rest musste ich selbst hinzugeben) und das auch nur, weil ich sowohl auf meine Realschulabschlussfahrt als auch die Abiturfahrt verzichtete.
    Direkte Erfahrungen mit Mobbing hatte ich eigentlich nie (außer an ein paar Situationen an der Schule mit den reichen Kindern, die 200€ und mehr Taschengeld im Monat bekamen und ich rätselte, was 13jährige mit so viel geld anfangen sollten, wo ich mit Centstücken abgeworfen wurde und ich sie hocherhobenen Kopfes aufsammelte, mich bedankte und freundlich lächelte. Danach passierte das nie wieder), aber im Abibuch gab es den obligatorischen Fragebogen von wegen "Wer ist Kettenraucher? Wer ist der "Freak? Wer wird später HartzIV-Empfänger?", der von dem gesamten Jahrgang abgestoimmt wurde. Ich habe alle drei "Awards" gewonnen, beschwerte mich aber beim Abibuchkommitee, dass der "HartzIV-Award" etwas witzlos sei, weil ich ja ohnehin schon ALGII bezog. Daraufhin wurde dies auch gelöscht und erschien nicht im Buch (das mit dem "Freak" habe ich nicht so eng gesehen, ich fand es eher witzig).

    Klassismus wird übrigens in manchen Kreisen schon stark diskutiert, bei clararosa.blogsport.de finden sich einige großartige Artikel zu dem Thema. Ich finde auch wichtig zu erwähnen, dass Kinder aus Arbeiter_Innen(oder Arbeitslosen)familien oft nur mit viel Druck es überhaupt aufs Gymnasium schaffen und nur knapp 13% ALLER Jugendlichen machen ihr Abitur. Kein Wunder, dass wir da oftmals die Aliens sind.
    Außerdem finde ich es mittlerweile schwierig von der "Arbeiter_Innenklasse" zu sprechen. Mittlerweile gibt es noch eine Klasse darunter, die "Arbeitslosenklasse". Egal wie wenig du verdienst, solange du nen Job hast, bist du immer noch "besser" als die "faulen HartzIV-Empfänger". Kotz.

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  6. Liebe Faserpiratin, vielen Dank für deinen Bericht, der mich leider nicht überrascht, da meine Erfahrungen in der Tendenz ähnlich waren. Vielleicht werde ich das auch irgendwann einmal verbloggen, ich weiß es nicht. Ich bin früh von zu Hause ausgezogen, noch im Abitur und habe Hilfe gesucht bei staatlichen Stellen. Hartz IV gab es damals noch nicht. Nur so viel, das Jugendamt teilte mir mit das ich mit fast 18 Jahren ja bald nicht mehr in ihre Verantwortung gehöre und schickte mich zum Sozialamt, die wieder zurück, weil ich noch nicht 18 war. Nach einigem hin und her wurde mir geraten das Abitur abzubrechen und eine Ausbildung zu beginnen, da ich ja weder "obdachlos" wäre, noch "auf den Strich ginge" oder "drogenabhängig". Aus Sicht des Amtes, also kein Hilfebedarf bestünde… Die aus der finanziellen Not resultierenden Schwierigkeiten brauche ich an dieser Stelle sicherlich nicht näher erläutern, aber ich sehe es ähnlich … all das hat mich stärker gemacht als die, die das Auto zum Abschluss geschenkt bekamen, da bin ich mir sicher.

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    1. Hartz 4 gab es zum Glück auch erst in der zweiten Hälfte meiner Schulkarriere (ganz so jung bin ich ja nicht). Deine Erfahrungen kommen mir bekannt vor, auch wenn ich sowas nie zu hören bekam, kenne ich das aus dem Umfeld.

      Dass diese Geschichten mich stärker gemacht haben, das sehe ich auch so. Trotzdem hätte es gerne weniger schmerzhaft sein können. Ich wäre wahrscheinlich trotzdem ein empathischer und engagierter Menschen geworden ;-)

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    2. Diese Situation ist mir bitter bekannt. Bei mir war es nach dem Auszug allerdings das Bermudadreieck Sozialamt-Jugendamt-BAföG-Amt in dem ich sieben (in Zahlen: 7) Monate herumirrte, bis sich ein Sozialarbeiter meiner erbarmte und mich an einen Rechtsanwalt verwies, der sich in solchen Sachen auskannte. Das Wort Prozesskostenhilfe war mir bis dahin unbekannt. Ein (in Zahlen: 1) harsches Schreiben seitens des Rechtsanwaltes bewirkte, dass das Jugendamt ohne (ich wiederhole: OHNE) Zögern mir das nötigste Geld überwies, sodass ich mein Abitur machen konnte. Das ist bitter, wir gucken mal wie lange wir die die Kleine hinhalten können. Information über die Rechte? Simpelste Freundlichkeit? Wozu?

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  7. Hi,
    ich möchte nur kurz anmerken, dass dein Blogeintrag mich dadurch fasziniert, dass er so große Unterschiede und doch so große Nähe zu meinem Erleben hat.

    In meiner Familie waren überlängere Zeit beide Eltern arbeitslos, oder haben sich mehr oder weniger damit abgewechselt. Die Permante Geldknappheit kenne ich. Auch ich gehörte dennoch zu den Klassenbesten.

    Interessanterweise - besser gesagt: glücklicherweise habe ich deswegen nie Mobbing erfahren. Das könnte ggf. daran liegen, dass ich andere, günstigere Angriffspunkte geboten habe, aber auch sonst hatte ich nicht das Gefühl, dass in meiner Klasse irgendwer wegen des finanziellen Status der Eltern stark benachteiligt wurde. Dass diese Form der Diskriminierung durch Mitschüler besteht, habe ich in abstrakter Weise immer wieder mal gelesen, aber erst durch deinen Text ist das für mich greifbarer geworden.

    Andererseits hätte ich dafür gar nicht so weit in der Ferne Schweifen müssen. Meine Schwester musste während der Oberstufe auch immer wieder zum Arbeitsamt und dort ihre Noten vorlegen. Wären diese nicht immer sehr gut gewesen, dann hätte das wohl zur Streichung von Harz 4 führen sollen und sie somit zum Abbruch des Abiturs zwingen. Ich hielt das bis eben für eine absolut einmalige Schikanierungs-Praxis und kannte bisher niemanden, der schon mal von ähnlichem gehört hatte. Nun weiß ich also, dass auch das kein Einzelfall ist. Hmpf.

    Liebe Grüße,
    Lena

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  8. Liebe Faserpiratin,
    ich finde es toll dass dich deine Eltern trotzdem so unterstützt haben. Bei deiner Begabung wäre das ja auch irgendwie Schade gewesen wenn du nur Aufgrund des „Arbeiter“ Hintergrundes nicht die Möglichkeiten gehabt hättest die du dir hier schwer erarbeiten musstest. Ich hab meine eigenen Erfahrungen mit Mobbing gemacht und weiß was das mit einen machen kann. Wenn du aber mal das Bedürfnis hast dich über deine Erfahrungen mal auszutauschen steht dir mein Wohnzimmer immer offen, ja. Hoffentlich bekomme ich das bei der Motte auch mal hin. Bin ja auch nur Arbeiter und wünsche mir trotzdem eine akademische Ausbildung für Sie....

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  9. Hui, irgendwie habe ich deinen Artikel total verpasst, als du ihn eingestellt hattest, ich miste gerade die ganzen angestauten ARtikel in meinem Feedreader aus, und da sah ich ihn. Also nachträglich Danke für den Text!
    Ich denk aber, diese Schüchternheitsfalle, etwas, was mensch persönlich erfahren hat, als nicht politisch relevant zu markieren obwohl es das ist, in die hättest du nicht tappen brauchen, das ist nämlich politisch relevant.

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  10. Willkommen im Club. Aus dem selben Grund ging ich ein Leben lang durch die Hölle. Nur das es noch schlimmer wurde als meine Eltern krank wurden, Pflege benötigten und ich diese bis zu deren Tot übernahm und so selbst auch in Hartz4 rutschte. Studieren konnte ich so auch nie. Nun halte ich mich mit Aushilfsjobs seit Jahren über Wasser- manchmal muss ich sogar Aufstocken. "Armut" hat mein Leben zerstört.

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  11. Ich hab deinen Beitrag gerade auf Twitter entdeckt und finde ihn fantastisch. Und teile ihn auch fleißig, weil so manch einer sich mal mit diesem Thema auseinander setzen sollte.
    Mir kommt vieles darin bekannt vor - gemobbt wurde ich zwar in der Schule aus anderen Gründen, soziale Herkunft war bei uns weniger von Relevanz, weil es viele Schüler aus finanziell schwachen Familien in unserer Region gibt und die, die besser gestellt sind, kommen teilweise auch aus selbstständigen Handwerkerbetrieben, die zu schwacher Konjunktur auch zusehen mussten, wo sie ihr Geld hernehmen.
    Ich komme aber auch aus einer Familie, wo beide Elternteile Hartz IV bekamen - meine Mutter hat ihre Arbeit verloren, als ich in der 5. oder 6. Klasse war und von da an wurde es auch bei uns immer schwieriger, meine schulische Laufbahn zu finanzieren. Obwohl ich zu den leistungsstärksten Schülerinnen gehörte, dachte ich in der 10. Klasse daran, vom Gymi abzugehen und eine Ausbildung zu machen, um meine Eltern zu entlasten. Letzten Endes habe ich aber mein Abitur mit sehr guten Ergebnissen gemacht, gehörte zu den Jahrgangsbesten und studiere jetzt seit 2 Jahren Lehramt. Mit Bafög-Unterstützung und Jobs während der Semesterferien. Von meinen Eltern habe ich dabei immer jede Unterstützung erhalten, die möglich war. Taschengeld kannte ich auch nicht, dafür fing ich mit 14 Jahren an, Zeitungen auszutragen, um mir selbst die Dinge leisten zu können, die ich gerne haben mochte. Und in der 11. Klasse, glaube ich, bekam auch ich beim Arbeitsamt eine eigene Fallmanagerin, die mit mir ein Gespräch über meine Zukunft führen wollte. Ich weiß nicht mehr, ob ich eine Eingliederungsvereinbarung unterschreiben musste. Auf jeden Fall macht es einem verdammt Angst, wenn man schon vor Ende der schulischen Laufbahn zum ersten mal eine Fallmangerin auf dem Arbeitsamt hat, als sei man selbst schon kurz davor, in Hartz IV reinzurutschen. Und das, obwohl man sich zu 100% sicher ist, dass man nach dem Abitur ein Studium antreten wird.

    Der Grund, warum ich kommentiere ist aber, dass mich dieser Artikel an Szenen aus meinen Seminaren in Bildungswissenschaften erinnert hat. Momente, in denen ich meine Kommilitonen anschreien, durchschütteln und würgen wollte, weil sie, die meistens aus Akademikerfamilien stammten, ganz selbstverständlich darüber debattierten, dass in den "bildungsfernen Schichten" ja oftmals schon aus dem Elternhaus keine Unterstützung zu erwarten ist und da unten kaum jemand wirklich Bedarf hätte, dass das Kind ein vernünftiges Abitur hätte und irgendwann einmal studieren würde. Das ist totaler Schwachsinn und das widerlichste, was ich je gehört habe, weil es durchaus auch im Hartz IV-Milieu viele Familien gibt, die ihre Kinder nach Leibeskräften unterstützen, damit die es eines Tages besser haben. Wenn ich mir vorstelle, dass solche Kommilitonen irgendwann einmal vor einer Klasse stehen, rechne ich damit, dass sie genau diese Schüler aus den "bildungsfernen Schichten" früher oder später sich selbst überlassen, statt sie zu unterstützen und zu fördern.
    Da wird mir übel, das macht mich traurig und wütend. Wo man kann, legt man Kindern aus Hartz IV-Familien Steine in den Weg, statt sie zu unterstützen. Ich habe in meiner Stadt von Fällen gehört, da wurden den Familien die Leistungen gekürzt, weil das Kind mehr Lehrlingsgehalt hatte, als ihm zustand und ich habe von Fällen gehört, da wurde Jugendlichen auf dem Arbeitsamt an den Kopf geknallt: "Wieso wollen Sie denn studieren? Machen Sie gefälligst eine Ausbildung, das reicht vollkommen aus!" Ähnliche Fälle gibt es wahrscheinlich zuhauf in ganz Deutschland.
    In dem Sinne will ich dir widersprechen, dein Blogbeitrag ist durchaus politisch relevant. Du gehörst zu den Menschen, die das am eigenen Leib erlebt haben. Und du beweist, dass man trotzdem seinen Weg gehen kann. Ich ziehe meinen Hut vor dir und danke dir für diesen Blogeintrag, der so viel über dich selbst preisgibt, aber gleichzeitig auch wie ein Aufschrei für all diejenigen ist, die in einer ähnlichen Situation stecken. Danke!

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